Vorlesen ohne Publikum vor der Kamera
Der Vorlesewettbewerb des Deutschen Buchhandels blickt auf eine lange Tradition zurück. Im Deutschunterricht der sechsten Klassen bietet er seit 1959 Schülern jedes Jahr eine beliebte Möglichkeit, sich gegenseitig Bücher vorzustellen und auf diese Weise die Lust am Lesen zu wecken. Den Kreisentscheid hat Lea Todorov als Schulsiegerin der Liebfrauenschule in diesem Jahr gewonnen – unter besonderen Voraussetzungen.
Nachdem die Teilnehmerinnen am Schulentscheid Mitte Dezember noch vor kleinem Publikum in der Mediathek der Liebfrauenschule die von ihnen ausgewählten Buchausschnitte vorlesen konnten, entschieden sich die Veranstalter der Kreisentscheide dazu, die Beiträge aufgrund der besonderen Situation online einreichen zu lassen. Die Teilnehmer wurden aufgefordert, ein knapp fünfminütiges Video zu erstellen, in dem sie zunächst das von ihnen ausgewählte Buch vorstellen, um anschließend einen Abschnitt daraus vorzulesen.
Höchste Konzentration
Eine Entscheidung, die Lea Todorov, Schülerin der Klasse 6A, zunächst Enttäuschung bereitete: Vorlesen ohne Publikum, ohne Kennenlernen der Mitstreiter von den anderen Schulen im Kreis Bergstraße, ohne die Möglichkeit, die besondere Atmosphäre des Wettbewerbstages zu erleben? Stattdessen: Lesen vor laufender Kamera, höchste Konzentration, da der Beitrag in einem einzigen Take gefilmt werden musste. Im ersten Moment erschien die Entscheidung der Veranstalter, den Wettbewerb auf diese Weise fortzusetzen, fragwürdig.
Als große Stütze hat Lea beim Erstellen ihres Videobeitrages die Atmosphäre in der gemütlich gestalteten Leseecke der LFS-Mediathek empfunden, wo sie, vor einem Bücherregal auf einem Hocker sitzend, ihren Ausschnitt aus J. K. Rowlings neuem Roman „Der Ickabog“ las, gefilmt von Anna Jarosch, die an der LFS ein freiwilliges soziales Jahr absolviert.
Lea stellte sich sehr schnell auf die ungewohnte Situation ein und machte, wie sie selbst im Nachhinein fand, eine ganze Reihe neuer Erfahrungen, zum Beispiel, dass es auch beim Vorlesen vor der Kamera auf eine bewusste Körperhaltung ankommt, um den imaginären Zuhörer vom ersten Moment an mitzunehmen, und dass die Nervosität der ersten frei gesprochenen Sätze verfliegt, wenn man sich voll auf die Sache konzentriert und das rote Aufnahmelicht der Kamera ignoriert.
Lea, die den Schulentscheid im Dezember für sich entschieden hatte, kann man mit Fug und Recht als einen Bücherwurm bezeichnen. Durch das Lesen in eine unbekannte Welt einzutauchen, habe sie schon früh fasziniert. Ihre Mutter sorge dafür, dass ihr der Lesestoff nicht ausgehe, und sei auch „ihre Inspiration“ bei der Auswahl geeigneter Bücher für den Wettbewerb gewesen.
Als Älteste von vier Geschwistern bringt sie darüber hinaus einige Erfahrung im Vorlesen mit. Dabei geht es ja nicht nur um ein passendes Lesetempo, um gutes Artikulieren und eine atmosphärisch dichte Gestaltung des Textausschnittes und schon gar nicht um einen einstudierten Vortrag. Es ist kaum zu beschreiben, auf welche Weise jemand, der eben auch ein gewisses Talent zum Vorlesen mitbringt, seine Zuhörer vom ersten Satz an in die Geschichte mit hineinnimmt, schreibt die LFS.
Lea gelang es scheinbar mühelos, die Figuren aus Rowlings Roman lebendig werden zu lassen. Dies überzeugte offenbar auch die Jury, der die Entscheidung unter den besonderen Bedingungen in diesem Jahr sicher nicht leichtgefallen ist.
In einem Artikel mit der Überschrift „Lest Leute! Lest weiter!“ wirbt der Schriftsteller Peter Härtling leidenschaftlich um junge Leser. Er schreibt: „Das Glück des Lesens ist teilbar, mitteilbar. Wer liest, liest auch schon vor.“